Über das Warten

Das letzte Jahr war ein anstrengendes Jahr. Ich war durch äussere Umstände sehr gefordert bei mir und auf meinem Weg zu bleiben. Ich musste ausharren.

An einem Nachmittag im Dezember bin ich dem Eisvogel begegnet. Ich habe ihm zugehört. Er hat mich über das Warten gelehrt.

Der Eisvogel ist ein Meister im Warten und Ausharren. Was meinst du, wie es ihm dabei geht? So lange still zu sitzen, bei Wind und Kälte, Hitze oder Sturm.

Warten ist meist nichts Angenehmes, nichts Bequemes, es braucht unsere volle Aufmerksamkeit.

Es ist nichts, dass nebenher geschieht oder das du vom Sofa aus machen kannst. Warten ist ein tiefer Prozess, der alles Bisherige in Frage stellt, alles durcheinander wirbelt und dich neu zu ver – handeln lehrt. Warten kann so schmerzvoll sein, dich an den Rand des Abgrundes bringen. Dir die dunkelsten Seiten offenbaren. Warten kann manchmal auch liebevolle und sanfte Momente haben. Wie Wind, der durch das Gras streift. Warten kann wie ein Orkan über alles hinwegfegen. Alles unter einer Decke vergraben. Warten offenbart dir deine tiefsten Ängste und deine innigsten Wünsche. Warten löst Flüsse von Tränen und das Grollen der Wut, wie Steine, die ins Tal poltern. Warten kann so still sein, dass du dich verloren glaubst. Ohne Anhaltspunkte irrst du orientierungslos.

Wenn du nicht präsent bist und dich ablenkst, wenn du nicht lange genug ausharrst, dann verpasst du den Moment. Wenn du zu lange wartest, ist es zu spät.

Vertraue dir! Du wirst es wissen. Du wirst wissen, wann der Moment gekommen ist.

Wie der Eisvogel. Er weiss genau, welchen Fisch er fangen will.

Wenn der Moment da ist, dann ist er pfeilschnell, entschlossen und ohne Umwege. Er hat sein Ziel vor Augen und folgt ihm mit jeder Feder seines Daseins.

Warten bringt dich weg von allem und so nahe zu dir selbst.

Er stürzt sich ins Wasser und hält den Fisch fest. Dies kann ein langer Kampf sein. Der Fisch wehrt sich vielleicht und zappelt wild. Bleibe bei deinem Entscheid, halte daran fest. Dieser Moment ist kräftezehrend und verlangt alles von dir. Vielleicht zieht dich der Fisch in die Tiefe. Du hast Angst zu ertrinken, kriegst keine Luft. Halte fest, bleibe bei dir. Du sinkst. Sinkst immer tiefer ins Wasser. Es wird dunkel und du verlierst die Orientierung. Alles in dir schreit danach, den Fisch einfach loszulassen. Das wäre doch viel einfacher. Wo ist oben, wo ist unten. Du zappelst genau so wild wie der Fisch. Lausche. Gib dich dem Moment hin. Gib dich dir hin. Du lässt dich in die Tiefen ziehen. Du tauchst ganz ein und vertraust dem Leben. Kämpfe nicht dagegen an. In dem Moment, in dem du dich hingibst, in genau dem Moment, fängt der Weg zur Wasseroberfläche an. Ganz unten hast du Boden, von dem du dich abstossen kannst. Du schwimmst dem Licht entgegen.

Vielleicht hast du den Fisch unterwegs verloren. Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass du gewartet hast. Du dich hingegeben hast. Bereit warst, zu sterben. Wichtig ist, dass du wieder aufgetaucht bist, und du nun bereit bist, deine Flügel auszubreiten. Jetzt ist es Zeit, weiterzugehen – in neuer Fülle.

Mutig ist, wer warten kann. Dahinter liegt alles verborgen.